Männer und Memmen/Dankesrede an MindtheGap

Thoma

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Männer und Memmen
Dankesrede an MindtheGap

Der moderne Mann möchte wirken.
Wenn nicht durch einen klugen Gedanken,
dann durch seine edle Erscheinung mit achtfach verschlungenem Krawattenknoten.
So reiht er sich ein unter seinesgleichen,
dokumentiert aber zugleich: Ich bin ein bißchen mehr. Insgesamt mehr sartorial. Ich hebe mich ab.

Der moderne Mann kleidet sich gerne individuell.
Er verpaßt seinem Jackett ein rosa Futter (Bemberg) und zeigt damit die Würde einer Primzahl.
Er teilt sich gerne, denn nur in der Teilung macht er sich vergleichbar und nur im Vergleich macht er sich zu einem Unvergleichbaren.
Dies ist die elementare Crux seiner Garderobe.
Gezwungen zu Anpassung und D’accord,
zur identitätslosen Einreihung in die Masse der Funktionierenden,
muss er sich, um sich sich selbst als den zu bestätigen,
der er glaubt zu sein, ständig fragen: Bin ich ein anderer?

Und die Ironie dabei: Er fragt dazu tatsächlich die anderen.
Untentwegt stellt er Nachforschungen an in den einschlägigen Foren,
bei denjenigen also, von deren Urteil er Akzeptanz erhofft.

  • Steht mir das?
  • Paßt A zu B?
  • Was haltet Ihr von xyz?
  • Wie beurteilt Ihr …?

Statt sich zu befreien,
sich dem Joch der Kleiderordnungen zu entreißen,
statt ein freier Mensch zu werden, mächtig freier Gedanken,
hält der Satorialist Rückgriff unter denjenigen,
von denen er sich unterscheiden will;
nützt die Menge als Spiegelersatz,
weil er sich beim Blick in selbigen die banale Frage: Steht mir das?,
mangels Urteilskraft gar nicht mehr selber beantworten kann.

Ihm fehlen die Kodizes, alle Maßstäbe.
Also stellt er unermüdlich Fragen.
Von der richtigen Schuhsohle (Rendenbach) bis zur richtigen Scheitelpomade (Harris).
Denn sein Blick in den Spiegel ist immer der Blick auf sich selbst durch die Augen der anderen.
Das Paradox:
Er, der glaubt, sich zu gewinnen,
merkt nicht, dass er von Anfang an verloren war.

Kurz nach seiner Emigration läuft Albert Einstein durch New York.
Er trifft auf einen Bekannten aus Deutschland.
Der sagt: Mein lieber Albert, ähm, also, unter uns, bitte verzeihen Sie mir, aber in diesem alten, schäbigen Mantel, so können Sie doch nicht herumlaufen!

Ach was, sagt Einstein, hier kennt mich ja niemand.

Nach Jahren trifft ihn der Bekannte wieder.
Der stöhnt auf: Mein lieber Albert! Sie haben ja immer noch diesen alten, abgetragenen Mantel an!

Ach was, antwortet Einstein, hier kennt mich ja jeder.


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Zuletzt bearbeitet:
Das passiert, wenn man sich den ganzen Tag Nietzsche und Simmel um die Ohren haut...

Das glaube ich nicht, zumindest postuliert Thoma die Möglichkeit geistiger Freiheit, gar den Menschen geistig von sozialen Einflüssen entkoppelbar als vollkommen der Autarkie fähig, womit er in dieser Frage eine weitestgehend konträre Position zu Nietzsche einnimmt. Eher kommt mir Kants „Joch der Unmündigkeit“ in den Sinn, wobei selbst der gute Immanuel die Möglichkeit einer „zur Natur gewordenen Unmündigkeit“ in Betracht zieht.

Spannend zu erfahren wäre, wie der freie Thoma wohl ohne jedweden Referenzrahmen seinen Leib umhüllt und wie er bei kritischem Review seine Urteilskraft einschätzt.
 
Nachtrag:
Der Gentleman ist eine Erfindung des beschäftigungslosen,
überaus gelangweilten britischen Landlords,
dem seine Untertanen ihm Style und Groom finanzieren:
Der distinguiert und in Muße sein Einstecktüchlein (EST) drapiert
und der als Rentier in seiner eitlen Selbstbespiegelung die Frechheit hat,
sich über den schlechten Stil der Landbevölkerung zu mokieren,
die von ihm selber ausgebeutet wird.

Das hat ihm die Schimpfwörter ‚Snob‘, ‚Geck‘ und ‚Fatzke‘ eingebracht
und jeder gestandene Mann wendet sich angewidert ab von all dem sartorialen Gebräu,
das ihm seitens einer Pseudo-Stilindustrie als Nonplusultra der Herrenkultur angedient wird.

Die Gegenbewegung des urbanen Holzfällerlooks, der Trend zum ‚rugged‘ - ebenfalls zu gesalzenen Preisen - schließlich will man sich auch dort vom Landstreicher abheben -
möchte Anleihen der Arbeiterklasse zitieren,
ohne sich deren Schweiß und Staublunge einzuheimsen,
schließlich hockt man ja klimatisiert den ganzen Tag über im Büro.

Dazwischen sind die, die das kaufen, was alle kaufen und was auch andere Kunden gekauft haben und dann natürlich diejenigen, die nach dem Preis gehen müssen und beim Discounter zugreifen;
und schließlich Showbiz und Prominenz plus Anhang: Die Verhaltensauffälligen.

Ich nun gehöre zu denen,
die nirgendwo zugehören wollen.
Es ist mir völlig verunmöglicht, als Full-Canvas-Schnösel herumzurennen
und die Maskerade des Büroschlurzers als Workingclass-Hero mit Raw-Jeans für 600 Euro: Da trifft mich der Blitz.
Es ist nicht so, dass ich beides nicht mitgemacht hätte.
Ich glaube, allein für Schuhe habe ich überreichliche 10000 Euro ausgegeben,
weil man erst beim Tragen merkt, ob einem die Dinger was taugen.
Als ich zuletzt hier online war, 2013, habe ich sogar noch irgendeine Maßanfertigung gepostet.
http://forum.stilmagazin.de/showthread.php?t=11185
Die hängt noch immer ungetragen im Schrank.

Ja, man macht Fehler. Ja, man zahlt Lehrgeld.

Mir ist schon 2013 überwiegend Häme entgegengeschallt,
weil man nicht sieht, dass Sprache Denken ist und Denken der Zugang zur Welt,
und glaubt, sich jedem Ding in der selben Grammatik annähern zu können,
aber ich habe mein Vorhaben von damals - Auszumisten -
tatsächlich umgesetzt.
Das ganze Maß-Zeug habe ich zwar noch. Ich wollte es nicht zur Altkleidersammlung geben.
Aber der Rest ist draußen.

Jetzt ist es so: Ich habe zwei ‚Outfits’.
De facto ziehe ich immer das Gleiche an.
Ich habe dieses Gleiche an Oberbekleidung identisch in vierfacher Ausfertigung.
Einen Teil am Leib, einen in der Wäsche, einen in Vorrat und einen in Reserve.
Damit komme ich perfekt hin.

Ich will Ihnen das Geheimnis verraten.
Wenn mich die Leute sehen, sehen sie nicht meine Kleidung, sondern mich.
Sie gucken nicht auf meine Schuhe, nicht auf mein Revers, nicht auf mein satoriales Knopfloch.
Sie gucken mir in die Augen.
Wissen Sie, wie ich das schaffe?
Es ist ganz einfach,
aber ich verrate es nicht.
T.
 
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