Ein tendenziell eher bescheidenes Auftreten empfinde ich persönlich doch eher als stilvoll. Wobei Bescheidenheit sicher relativ zu den persönlichen Möglichkeiten zu sehen ist. Wer über ein Vermögen verfügt, sich im Rolls Royce samt Fahrer zu bewegen, kommt im 7er BMW möglicherweise bescheiden daher.
Ich glaube, Du interpretierst Bescheidenheit etwas anders als ich. Ein bescheidenes Auftreten hängt in keiner Weise mit äußerlichen Nebensächlichkeiten wie Kleidung, Schuhen, Accessoires, Autos zusammen. Bescheidenheit zeigt sich in der eigenen Persönlichkeit im direkter sprachlicher Interaktion mit anderen Menschen und das hat tatsächlich viel mit Stil in der ursprünglichen übergreifenden, nicht ausschließlich kleidungsbezogenen Begriffsbedeutung zu tun.
Deutschland ist - da stimme ich Dir zu - ein Land mit ausgeprägter Neidkultur. Es ist aber IMHO auch ein Land, in dem testosterondampfende Möchtegern-Alphatiere weitaus häufiger und gesellschaftlich ungezähmter vorkommen als in anderen Ländern. Dazwischen sehe ich einen gewissen Zusammenhang.
Ich denke, jeder merkt intuitiv schon in den ersten Minuten der Kommunikation, ob sich jemand aufspielen will und zu Lasten anderer in den Vordergrund drängt oder mit angemessener geistiger Reife und Würdigung seiner Gesprächspartner agiert. Jemandem, den man sympathisch findet und dem man vertraut, neidet man auch weniger. Natürlich ist dazu ein etablierter Kommunikationskontext erforderlich, ein flüchtiger Passant kann nur die äußeren Schalen wahrnehmen und danach (vor-)urteilen. Aber bei Menschen, die man nicht kennt und mit denen man nicht interagiert, ist das auch wesentlich weniger wichtig.
Auch ich möchte auf einen gewissen Luxus nicht verzichten. Aber ich kann gut auf Dinge verzichten, die mir keinen Mehrwert bringen, die jedoch vielmehr als Symbol für Status oder Einkommen provozieren.
Man sollte immer auf Dinge verzichten, die einem keinen Mehrwert bieten. Dazu gehören für eine gereifte Persönlichkeit selbstverständlich auch alle Dinge, die man nur haben möchte, um andere zu beeindrucken. Man sollte sich aber das Urteil darüber, was Mehrwert bietet (was nicht-funktionalen Genuss mit einschließt), nicht von anderen oder in voreilendem Gehorsam gegenüber der Umwelt diktieren lassen. Eine Neidkultur verstärkt sich nämlich auch selbst in umgekehrter Form dadurch, dass man für sich selbst willkürlich Dinge definiert, die Neid auslösen könnten, auch wenn man sie in anderer Deutung auch viel positiver wahrnehmen könnte.
Und da liegt eben die tiefere Wahrheit: Neid bindet sich bei einem mehr als oberflächlichen Kontakt nicht an Dinge, sondern an Menschen, die man nicht mag. Von daher ist es viel bedeutsamer, im kommunikativen Austausch mit anderen Menschen als zugänglich, vertrauenswürdig und sympathisch wahrgenommen zu werden, als sich selbst in seiner Freiheit zu beschränken, um ja nicht aufzufallen. Das gilt nicht nur für die Neidvermeidung, sondern auch für jede andere Art von gefürchteten oder tatsächlichen gesellschaftlichen Nachteilen durch Äußerlichkeiten wie in den gelegentlichen "Bin ich overdressed???"-Diskussionen.