Nein, es geht darum, dass jeder Schneider (so wie jeder andere Handwerker) seine eigene Arbeitsweise hat, von der er nur sehr ungern abweicht, bzw. gar nicht abweichen kann, weil er eben "nur" auf seine Art arbeiten kann.
Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass ein Handwerker jeden beliebigen Wunsch erfüllen kann. Was der Kunde als ganz selbstverständlichen Wunsch auf der Liste hat, stellt Handwerker oft genug vor handwerklich fast unlösbare Problem, weil: Handwerk eben bestimmten Arbeitsmustern folgt, die antrainiert, bzw. sorgfältig angelernt sind und nicht kurz mal geändert werden können.
Hinzu kommt, dass ein guter Schneider (ebenso wie jeder gute Handwerker, gleich welchen Faches) sich auch als Künstler sieht. Er hat eine bestimmte Philosophie nach der er arbeitet und von der er nur ungern abweicht und normalerweise auch gar bicht ohne weiteres abweichen "kann".
Seht es doch endlich mal ein, dass Handwerk/Kunst kein beliebig änderbares Industrieprodukt ist, an dem man alle Parameter nach Belieben ändern kann, sondern zu fast 100% vom "Meister" abhängig ist, von seiner Arbeits- und Sichtweise.
Im Grunde völlig d'accord, besonders was das Kreative betrifft. Meine Vorgaben setzt mein Schneider dann in seiner ganz individuellen und unbeinflußten Weise um. Aber erteilt werden doch von jedem gewisse Vorgaben (ggf. auf Rat hin auch völlig abgeändert), sei es schiftlich oder mündlich, und zwar zu sehr vielem: Etwa 1/2/3-Knopffront, Anzahl Ärmelknöpfe, Futter (Dicke, Material, Farbe), Taillierung, Schulter, Patten und Paspeln ja/nein, Außentaschen (Form, schräg/gerade, aufgesetzt, Blasebalg, Anzahl etc.), Innentaschen (Anzahl, Lage, Größe, Taschentiefe), 1/2-Schlitz und noch einiges mehr. Das alles zu bestimmen überläßt doch wohl kaum einer zu entscheiden dem armen Schneider mit einem: "Bauen Sie mir mal irgendwas Rockartiges, nur gefallen soll's mir."
Auch dazu ist doch die Maßschneiderei da, nämlich daß die eigenen Vorstellungen in den Grenzen des Realisierbaren, jedoch in der individuellen Formensprache des Schneiders, umgesetzt werden. Exakt dieselben Vorgaben derselben Person an 10 Schneider gegeben ergiben 10 unterschiedliche Werke. Hierin liegt deren Freiheit. Die große Kunst des Schneiders besteht dabei - neben seinem Rat zu Änderungen - darin, diese Vorgaben so umzusetzen, daß etwas Perfektes entsteht, nämlich die Symbiose aus Kleidung und Persönlichkeit. Und hieran wirken sehr wohl zwei (d. h. mit Vorgabe, Rat und Umsetzung und also mit qualitativ und quantitativ sehr unterschiedlichen Anteilen ) mit, nicht nur der Schneider so gut wie alleine. Für mich ist das fast ein Mysterium, wie er es stets schafft, den platten Stoff derart in meine zweite Haut zu transformieren, daß ich seit Anbeginn Komplimente sammle - private wie anonyme öffentliche.
Was Vertrauen betrifft: Ich kann auch ohne eigene schriftliche Vorgabe. Mein erster Mantel z. B. sah bis auf ein einziges Detail anders aus, als die ursprünglichen schriftlichen Ideen. Von denen bin ich auf seine Anregungen hin fast vollständig (und nur mündlich) abgegangen - Gott und ihm sei's gedankt. Ich weiß, daß ich ihm völlig vertrauen kann. Trotzdem möchte er meine ersten schriftlichen Vorgaben, die bei Routinestücken (Sportröcke, Anzüge) dann i. d. R. ohne jede Änderung umgesetzt werden.
À propos, was zu jeder guten Beziehung gehört, so auch beim Schneider: Viel loben, danken, anerkennen, und zwar auch die Details, und (wie man heute so sagt) "authentisch". Aber das ist ja an sich selbstverständlich - im Gegensatz dazu einen guten Schneider zu haben.
Auch Ihnen allen vielen Dank für Ihre Anregungen durch Überlegungen und Kritik. Die waren heute Abend Anlaß dafür, mir selbst so manches Empfundene bewußt zu machen, sei es Konträres oder Übereinstimmendes.