Aber auch Konventionen müssen sich weiter entwickeln, wenn sich die Gesellschaft verändert. Was vor 50 Jahren lächerlich erschien, ist heutezutage teilweise von der breiten Masse durchaus akzeptiert (nagelt mich nicht auf dem Begriff breite Masse als Pöbel fest).
Das mag alles sein. Ich behaupte nicht, dass sich meine Vorstellung einer konventionellen Kleidung als Hochzeitsgast mit den Konventionen vor 50 oder 100 Jahren deckt. Seitdem hat sich einiges verändert. Die Vorschrift "Ihr dürft nichts Weißes tragen, denn dann sieht mein Brautkleid auf den Fotos nicht sauber aus" ist aber keineswegs eine sanfte Weiterentwicklung der klassischen Bekleidungskonvention, sondern schlicht blanker Narzissmus. Wer von seinen Hochzeitsgästen verlangt, dass diese einer völlig unüblichen Bekleidungsvorgabe folgen sollen, der wird die eigene Hochzeit vielleicht für die gelungenste aller Veranstaltungen der Weltgeschichte halten, begeht aber im zwischenmenschlichen Kontext einen deftigen Fehltritt. Weil sich 200 Leute nach dem schrägen Geschmack einer einzigen Person richten sollen, die sich für den Nabel der Welt hält und auf den Fotos sauber aussehen will.
Es geht bei solch einer Veranstaltung doch darum, dass das Brautpaar ihren schönsten Tag mit Freunden und Familie teilen möchte.
Die Vorstellung von der Hochzeit als "wir heiraten -> das ist eine Sensation -> Ihr dürft alle teilnehmen, wenn Ihr unseren Vorstellungen davon folgt, wie wir diesen Tag wie eine Theateraufführung in Szene setzen". teile ich nicht. Meine Vorstellung ist: "Wir heiraten und möchten diesen Tag für
Euch und
uns besonders schön gestalten, denn nicht nur wir als Brautpaar sind eine Freude für unsere Gäste, sondern auch unsere Gäste sind eine Freude für uns als Brautpaar. Also gestalten wir den Tag so, dass
alle es schön haben. Konventionen machen das möglich. Auch die Gäste haben Aufwendungen, auch die Gäste müssen sich frei nehmen und teilweise weite Anfahrten stemmen und Hotels buchen etc. Da werde ich ihnen doch nicht noch eine willkürliche Bekleidung aufzwingen.
Da bleibe ich doch nicht fern, nur weil mir die Kleiderordnung nicht passt.
Und ich mache den Gästen keine aberwitzigen Vorschriften, sondern akzeptiere sie als meine Gäste so, wie es sich gehört und wie es üblich ist. Damit keiner vor die Wahl gestellt wird, sich zu verkleiden oder fernzubleiben.
Und ich kenne viele, die keineswegs nach Deinem Wunschdenken ausgestattet sind. Schon mit dem Dresscode "dunkler Anzug/Smoking" für die Abendveranstaltung habe ich in meiner eigenen Familie Rebellion hervorgerufen.
Bei meiner Hochzeit stand "Smoking / dunkler Anzug" auf der Einladung für die Abendveranstaltung. Und es kamen 50% der Herren im Smoking, 40% im dunklen Anzug und 10% in dem, was sie im Schrank gefunden haben und für angemessen hielten. Da war keiner ausgeschlossen. Eine gewisse Quote an Freischärlern ist für eine solche Party auch kein Problem.
Meinst du? Woher weißt du, wer sich wann wohlfühlt?
Das weiß ich nicht, das ist eine gesellschaftliche Konvention. Ich weiß auch nicht, ob jeder sein Essen gerne an einem Tisch mit Besteck isst oder vielleicht im Liegen oder im Dunkeln. Das muss ich aber auch nicht wissen, weil es eine Konvention ist. Also gibt es das Essen mit Besteck an einem Tisch.
Das Obige gilt vielleicht für dich und nicht wenige hier, aber das ist sicherlich kein repräsentativer Schnitt der Bevölkerung. Du stellst die These auf, dass sich Konventionen nicht geändert haben. Ist das nicht vor dem Hintergrund der Realität eine sehr gewagte Behauptung? Vielleicht hat man hier auch einfach den Anschluss verpasst und die Konvention hat sich bereits durch die Masse und deren Wünsche geändert.
Das ist eine These, die man nur schwer diskutieren kann. In meinem Umfeld hat die Konvention sich nicht zum cremefarbenen Hemd entwickelt. Die mir näher bekannten Menschen fühlen sich wohl, wenn sie eine Veranstaltung als festlich empfinden und durch eine Harmonie der Bekleidung ein einheitliches Bild der Teilnehmer entsteht, so dass sich jeder der Gesellschaft zugehörig fühlt und die Gesellschaft mit dem Rahmen eine stimmige Einheit eingeht. Verkleiden will sich da niemand, sondern einfach nur die festliche Kleidung tragen, die man sonst auch auf Veranstaltungen trägt. Auf einer Hochzeit treffen viele Fremde aufeinander und ein einheitliches Erscheinungsbild kann Menschen zueinander bringen, deren Unterschiedlichkeit bei "free float" derart sichtbar würde, dass sie nicht miteinander in Kontakt treten.
Das Thema ist sicherlich auch kulturell unterschiedlich. In den USA zum Beispiel ist es durchaus üblich, dass der inner circle der Gäste bei einer Hochzeit mit einer dominanten Farbe markiert wird. Dann zahlt aber auch das Brautpaar diese Ausstattung, z.B. entsprechende Kleider für die Frauen und Krawatten für die Herren.
Und aus meiner Sicht müssen die Menschen genau das: Sie müssen sich für das Brautpaar, das man im besten Falle liebt, verkleiden, weil es schlichtweg deren Hochzeitswunsch ist.
Nein. Das ist nicht mein Verständnis von einer Hochzeit. Ein Fest ist kein Kostümball.
Ich gehe noch weiter: Wenn der Hochzeitswunsch ist, dass alle im Hasenkostüm erscheinen, dann hat man die Wahl dort genau so hinzugehen oder man lässt es. Geht man im perfekten, den Konventionen entsprechenden Outfit dort hin, ist das einfach unverschämt.
Auch das ist nicht mein Verständnis von einem Fest. Eine Einladung ist eine Geste der Großzügigkeit. Diese Großzügigkeit ist nicht an Bedingungen geknüpft. Es gehört zum guten Ton der Gäste, sich für die Einladung erkenntlich zu zeigen, zum Beispiel durch das Erscheinen in einem wertschätzenden Äußeren. Eine Kostümierung gehört allerdings nicht dazu. Und bei Gästen, von denen bekannt ist, dass sie sich das wertschätzende Äußere nicht leisten können oder es aus organisatorischen Gründen nicht hinbekommen (z.B. weil der Koffer am Flughafen hängen geblieben ist), wird eine Abweichung akzeptiert.
Genau! Und wer sich nicht daran hält, hat gefälligst nie zu heiraten! Zumindest nicht "festlich"! (...) Die letzte Entscheidung liegt aber beim Brautpaar.
Mich würde interessieren, ob Du schon geheiratet hast. In diesem Fall hast Du nämlich ein Gespräch mit einem Pastor oder einer Pastorin. Spätestens dieses Gespräch zeigt Dir, dass Du als Brautpaar keineswegs der Zeremonienmeister bist, der den Rahmen der Veranstaltung nach willkürlichen Vorlieben verballhornen kann.