@SteveHH
Lieber Stephan,
das Thema Gewicht gehört zwar nicht in "kleine Fragen, schnelle Antworten" und wurde auch schon umfassend diskutiert, ich möchte Dir aber als Betroffener, der auch mal so argumentiert und gedacht hat wie Du, meine Erfahrung weitergeben. Auch, wenn Du diese vielleicht instinktiv mit einem kopfschüttelnden "das funktioniert bei mir nicht, denn ich bin anders" quittierst. Wenn man schon seit der Jugend zu den Übergewichtigen gehört, gewöhnt man sich nämlich aus Selbstschutz eine "Ich bin anders" Einstellung an, um sich nicht an den gängigen Idealen messen zu müssen. Diese Haltung ist eine der Ursachen dafür, dass das Problem dann auch nicht mehr weggeht.
Ich startete meine Phase der Selbstveränderung im Alter von 30 Jahren. Meine Waage zeigte damals einen stolzen Wert von 120kg bei 184cm Körpergröße. Dieses Gewicht hatte sich über viele Jahre eingependelt und saß besonders am Hals, am Bauch und in den Oberschenkeln. Wenn ich heute Fotos aus dieser Zeit sehe, frage ich mich, wie ich so überhaupt gelebt habe. Aber man hatte sich daran gewöhnt, das Gefühl kennst Du ja. Mit dem Gewicht ging eine bequeme Unsportlichkeit einher, Treppensteigen war eine Zumutung, an Sport war überhaupt nicht zu denken. Und dann dieser ständige Hunger bzw. Appetit.
An einem Tag im April habe ich damals entschieden, dass das Leben anders werden muss. Anlass war eine zweiwöchige Urlaubs-Abwesenheit meiner Frau, die ich nutzen wollte, um etwas an mir zu tun. Eine ebenfalls übergewichtige Bekannte hatte kurz zuvor mit dem Experiment "abends mal die Kartoffeln weglassen" einige sichtbare Kilos verloren und so dachte ich mir, das kannst Du auch. Hinzu kam, dass wir kurz vorher zwei Fahrräder gekauft hatten und ich die Lust auf etwas Bewegung bekam (wir leben in den Bergen, also stell dir das bitte nicht zu einfach vor).
Ich habe dann mit einem sehr einfachen Schritt begonnen:
- Keine Kohlehydrate nach 18 Uhr. Abends nur Fisch, Fleisch, Wurst, Käse, Gemüse. Keine Nudeln, Brot, Obst, Bier, Reis, Kartoffeln, Zucker, Süßstoffe.
- Jeden Abend für ein paar Minuten aufs Fahrrad, einmal runter ins Tal fahren dann wieder rauf. Die ersten Male waren eine absolut furchtbare, menschenunwürdige Qual. Aber ich kam an. Es wurde von Tag zu Tag ein wenig leichter, diese Tour zu absolvieren.
Nach 2 Wochen kam meine Frau aus dem Urlaub zurück und erkannte mich nicht wieder. Ich hatte laut Waage 7kg verloren, sie zeigte 113kg. Das meiste davon war natürlich eingespeichertes Wasser, aber was soll's - man sah und spürte eine Veränderung. Diese erste, relativ leicht zu erzielende Veränderung gab mir den Schub für die Lust auf mehr. Meine Frau hat sofort mitgemacht. Uns war wichtig, keine Hau-Ruck-Methode anzuwenden, die man nach drei Monaten wieder einstellt, sondern eine nachhaltige Veränderung in unserer Lebenseinstellung vorzunehmen, die man auch langfristig aufrecht erhalten kann.
Ich habe dann die Methode etwas recherchiert und festgestellt, dass das ganze unter dem Begriff "Schlank im Schlaf" zusammengefasst werden kann und dass es auch zahlreiche Ratgeber, Foren etc. gibt, die einem auf diesem Weg helfen. Die Methode "18 Uhr" haben wir auf "15 Uhr" ausgedehnt. Wenn wir nach 15 Uhr "Hunger" auf Süßes bekommen, ist uns inzwischen klar, dass das nur ein eingebildeter Hunger des Körpers aufgrund des abfallenden Blutzuckerspiegels nach dem Mittagessen ist und dass es im Grunde unsere Fettzellen sind, die nach Süßem rufen. Wir legen uns die Süßigkeit dann für den nächsten Morgen in die Küche, denn morgens ist sie ja wieder erlaubt. Glaubst Du, am nächsten Morgen hast Du noch Appetit darauf? Keineswegs. Das Zeug wandert also wieder in den Schrank und vergammelt irgendwann.
Ich habe mich außerdem mit Ernährung beschäftigt. Natürlich kann man den Körper physikalisch betrachten, aber dann muss man es auch vollständig tun und Dinge wie den Blutzuckerspiegel etc. physikalisch mit einbeziehen. Meine Erkenntnis: Es ist viel einfacher, auf die Kohlehydrate zu achten als auf die Gesamtmenge an kcal. Ich habe mir dennoch eine Kalorienzähl-App auf das Smartphone installiert, um überhaupt einen Überblick zu bekommen, was ich pro Tag so zu mir nehme. Glaube mir, der Effekt einer solchen App ist spürbar. Aus purem Stolz lässt man manche Kleinigkeit weg, weil man keine Lust hat, sich damit die Bilanz zu versauen. Die psychologische Wirkung ist enorm und die bleibt auch dann erhalten, wenn man die App nicht mehr nutzt. Du musst aber anfangs sehr penibel sein, sonst setzt dieser Stolz nicht ein.
Wir haben den Sport dann ausgedehnt, denn wenn's erstmal klappt, dann klappt's. Ich habe längere Radtouren begonnen und am Ende bis zu 80km an einem Tag über die süddeutsch-bergige Landschaft begonnen. Über ein Jahr lang bin ich abends 3x pro Woche zum Schwimmen gegangen. Erst 200m pro Abend, dann 400m, 600m, 800m. Nach kurzer Zeit waren 1000m pro Abend das gängige Maß. Dieses Hobby habe ich bis heute aufrecht erhalten, wenngleich das Schwimmen etwas unter mangelnder Gelegenheit leidet. Ich sollte dafür wieder feste Zeiten einplanen. Ob Du's glaubst oder nicht: Es macht tierischen Spaß. Der Körper belohnt dich mit einem Selbstgefühl, das man als Unsportlicher gar nicht kennt.
Fazit: Nach ziemlich genau einem Jahr zeigte die Waage 93kg. Ich hatte 27kg abgenommen und konnte dieses Niveau bis heute auch ziemlich gut halten. Das ist bei 184cm noch kein Traumgewicht, aber ein Wert, mit dem ich mich gut fühle. Ich kann Treppen steigen. Ich kann radfahren. Ich kann schwimmen. Vor allem sind die Rückenschmerzen weg.
Damals musste dann auch der komplette Kleiderschrank erneuert werden und damit verbunden war meine Anmeldung hier im Forum.
Was ich Dir damit schreiben will: Du kannst das schaffen, wenn Du willst. Es fängt im Kopf an. Im Grunde geht es darum, folgende Denkmuster zu korrigieren:
1. Ich bin nicht anders als die anderen. Ich bin nur besonders gut darin, mir das einzureden. Mein Körper hört aber auf dieselben Gesetze.
2. Wenn ich weniger wiegen will, dann schaffe ich das auch. Es gibt Bequemlichkeiten, die diesem Ziel im Weg stehen. Wenn ich das Ziel aber priorisiere, dann erreiche ich es auch.
3. Wenn ich Hunger auf Süßes habe, ist das kein Hunger, sondern eine Einbildung, die daher kommt, dass die Fettzellen Angst davor haben, abgebaut zu werden. Sie wollen mich deshalb dazu bringen, den Blutzuckerspiegel anzuheben, damit sie in Ruhe gelassen werden.
4. Sport ist möglich. Dein Körper verfügt über dieselben technischen Mittel wie andere Körper. Du musst sie nur langsam und nachhaltig trainieren.
5. Weniger zu wiegen hat nichts mit Size-0-Schlankheitswahn zu tun. Es geht darum, ob ich meinem Körper langfristig diese Last zumuten möchte, die er mit sich herumtragen muss. Du hast nur einen Rücken, ein Herz, ein Paar Knie. Du brauchst sie noch lange.