... ein Stück weit der Masse etwas Einhalt gebieten beim Textilen Verfall. ...
Eigentlich verstehe ich die Diskussion nicht. Es ändert sich eben nur die Konvention in der breiten Masse, aber nicht das ästhetische Konzept. Das bedeutet auf gut deutsch, keiner schaut einen mehr schief an, wenn man in Badehose und Hawaii-Hemd zur Arbeit geht. Es sieht halt nur besch...eiden aus, ist aber eine tolerierte ästhetische Unhöflichkeit, etwa wie auf den Gehsteig spucken. Ähnliches gilt bzgl. der gesellschaftlichen Toleranz (natürlich in abgeschwächter Form ) für das Weglassen der Krawatte zum Anzug. Niemand behauptet, dass es besser aussieht, es weicht nur den Bekleidungskodex zugunsten einer gefühlten persönlichen Bequemlichkeit auf. Nach wie vor ist aber die Krawatte zum Anzug eine ohne weiteres akzeptierte Bekleidungsform, selbst bei Hawaii-Hemdträgern, nur eben nicht zum Selbertragen.Ja machen wir!
Ich stelle mal die These auf, dass ein Großteil der Anzugtragenden die Krawatte nur trägt, weil die Mehrheit der Anderen das auch tut und nicht, weil sie hinter dem ästhetischen Konzept stehen.
Das ist das Wesen einer Konvention.
Und wie Shop richtig schreibt ändern sich diese.
Wir orientieren uns hier doch schließlich an unserem eigenen Anspruch und nicht am kleinsten gemeinsamen Nenner, um bloß nicht aufzufallen, oder doch?
Und die Antwort kann für jemanden, der sich für die Ästhetik der gehobenen Herrenbekleidung interessiert und das Konzept der Krawatte im traditionellen Outfit versteht, nicht lauten: Weil es viele Gleichgültige, Bequeme und Unwissende auch so halten oder gerne so halten möchten, aber sich noch nicht trauen.
Nur in gehobenen beruflichen Kreisen, in denen sowieso niemand darüber nachdenken würde, die Krawatte zum Anzug wegzulassen. Wenn dieser Kontext so normal wäre, würden wir hier ja gar nicht darüber reden. Mein Eindruck ist eher, dass es eine ganze Reihe von Leuten gibt, die sich irgendwie zur Krawatte zum Anzug gezwungen sehen, aber gleichzeitig auch als gut gekleidet gelten wollen. Deshalb versuchen sie sich dieses gefühlten Zwangs elegant zu entledigen, indem sie das kastrierte Outfit ohne Krawatte schön reden.Anzug + Oberhemd + Krawatte ist doch der kleinste gemeinsame Nenner, um bloß nicht aufzufallen ?
Zumindest in dem formulierten Kontext der Begrifflichkeiten formell, Geschäftsumfeld, breite Masse gilt dieser doch weitgehend als sicher ?
Ein Einstecktuch ist wirklich ungewöhnlich, weil es über Jahrzehnte im gesellschaftlichen Alltag nahezu komplett verschwunden war und erst in jüngster Zeit wieder vermehrt getragen wurde. Die Krawatte zum Anzug sieht man hingegen zigfach in jeder TV-Nachrichtensendung. Das ist also nach wie vor etwas Alltägliches für jedermann, auch wenn man es selber nicht trägt.Das ist nur zum Teil richtig:
In meiner Branche (Bühne/Media) und ich vermute in einigen anderen auch, ist es mittlerweile so etwas von unüblich geworden Krawatte zu tragen, dass es auffällt, wenn es jemand tut.
Vor diesem Hintergrund fragen sich manche, selbst wenn sie die Ästhetik gutheißen, was Sie mit dem Tragen der Krawatte ausdrücken.
Im Zweifel nämlich zu große Förmlichkeit oder übermäßiges Herausputzen ähnlich dem Eindruck den mann sonst mit dem EST vielleicht erweckt.
Beides ist halt manchmal kritisch.
Das ist das, was ich mit der persönlichen Authentizität meine. Wenn man selber nicht überzeugend in seinem Auftreten ist, weil man sich nicht richtig wohl in seiner (Anzugs-)Haut fühlt, überträgt sich der Eindruck von aufgezwungener Förmlichkeit auf den Gesprächspartner. Und dann kommt man auf so seltsame Ideen wie die Krawatte zum Anzug wegzulassen, statt einfach insgesamt ein lässigeres Outfit, z.B. mit Sportsakko und Hose ohne Krawatte, zu wählen, das dann natürlich wieder in sich stimmig sein kann, wenn man weiß, was man tut. Es ist nur eben insgesamt weniger formell, damit muss man dann auch einfach mal leben, denn das ist es ja, was man letztendlich auch wollte.Positiv ist vielleicht, dass man dann auch überzeugt ist von dem was man trägt und nicht einfach nur irgendetwas umbindet, weil man halt muss.
Der Schwerpunkt Deiner Ausführungen liegt weiterhin auf dem Beruflichen und dem geschäftlichen Alltag, daher wohl diese argumentative Krawatten-Konstruktion -
Ich spreche hingegen der Krawatte eine deutlich untergeordnete Bedeutung zu.Ich spreche der Krawatte nicht mehr Bedeutung zu als dem Anzug. Aber auch nicht weniger.
Ich kann mir nach wie vor kein normales berufliches Büroumfeld vorstellen, in dem man keinen Anzug ordnungsgemäß tragen könnte, wenn man ihn denn wirklich selber tragen will.
Kann ich bestätigenDie Frage ist ob man sich durch die ersten 2 Monate durchkämpfen will, wo man andauernd gefragt wird, wieso man denn nun jetzt gerade schon wieder einen Anzug trägt.
Ich erkenne mich wieder. Bis auf die Tatsache, dass ich für einen solchen Tag - ein wenig Sonne und ordentliche Temperaturen vorausgesetzt - einen eher legeren dunkelblauen Anzug aus gröberem Wolle-Leinen-Gemisch mit einem hellblau-gemusterten Button-Down-Hemd, oberster Knopf offen, ohne Krawatte, vielleicht mit einem passenden Einstecktuch, wählen würde. Dann spare ich mir den häufigen Halsbekleidungswechsel.Ein Gleichnis:
Man nehme als Beispiel einen Anzug/eine Kombination, den man samstags morgens ein paar Stunden in der Kanzlei mit Krawatte trägt, danach Wechsel zum Krawattenschal für den Markteinkauf und kleines Mittagessen mit Madame, später geht es dann noch mit gebundener Schleife in den Kurpark zum Jazz-NachmittagsSchoppen, bevor abends der Salsa-Einführungskurs nach mindestens zwei geöffneten Hemdknöpfen verlangt und danach zur Vernissage auf einen Cashmere-Rollkragenpullover umgerüstet wird.
Zu nächtlicher Stunde reißt man (oder lässt reißen) dann das ästhetische AnzugKombinationsKonzept vom Leib, um -
es auf dem Balkon zum Auslüften hinzuhängen.
Das hat einen einfachen Grund, im englischen nennt man das Peer Pressure. Die neuen Kollegen fühlen sich unterschwellig bedroht, dass sich der Neue nicht anpassen und vielleicht gar versuchen könnte, sie auszustechen. Deswegen wird ein neuer Vorgesetzter dieses Problem auch nicht haben, wenn er besser gekleidet ist als seine Mitarbeiter. Im Grunde hat das mit der Kleidung an sich gar nichts zu tun.In meiner neuen Arbeitsstelle bin ich die ersten Wochen auch öfters gefragt worden wieso ich denn so einen altmodischen Anzug trag, und nicht einfach hemd und Hose.